6. 9. 2015: Der Tag an dem „Schienenersatzverkehr“ zum politischen Begriff wurde

Spätestens am 27. 8. 2015, am Tag, an dem 72 Tote in einem Kühllastwagen an der Autobahn in Parndorf, wenige Kilometer vor Wien, gefunden wurden, war auch hierzulande allen klar, dass der Umgang mit Flucht und Migration in der EU geändert werden müsste. Die Toten vor der Haustür wirkten heftiger als die Tausenden, die in den letzten Jahren im Mittelmeer ertrunken waren. Gleichzeitig waren, weitgehend öffentlich ignoriert, mehr als 100.000 Menschen unterwegs von der Türkei über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich nach Deutschland und Skandinavien. Parndorf ließ den medialen Fokus darauf richten, wie Geflüchtete in der EU behandelt wurden. Die Bilder vom Flüchtlingslager in Röszke (Ungarn) und die Situation am Bahnhof in Budapest verfehlten nicht ihre Wirkung. Die Ansage, stärker gegen Schlepper*innen vorzugehen, konnte nicht mehr davon ablenken, dass auch in der EU Tränengas und Schlagstöcke gegen Schutzsuchende eingesetzt wurden. Am 31. 8. demonstrierten 20.000 Menschen in Wien für eine humanere Asylpolitik, viele davon hatten auch die Öffnung der Grenzen als Forderung dabei. Zur gleichen Zeit wusste sich die ungarische Regierung nicht mehr anders zu helfen, als Geflüchtete in Zügen nach Wien fahren zu lassen. Mehr als 3.000 waren es in dieser Nacht. Vor dem Westbahnhof demonstrierten 20.000 Menschen, im Westbahnhof halfen hunderte Freiwillige, viele von ihnen selbst ehemals Geflüchtete. Die ÖBB-Angestellten und sogar die Polizei begannen eine Willkommenskultur zu entwickeln und die Menschen bei ihrer gewünschten Weiterfahrt nach Deutschland zu unterstützen. Diese emotional-aufrüttelnden sinnlichen Erfahrungen und die Tatsache, dass die ungarische Regierung am 1. 9. den Bahnhof Keleti in Budapest für Refugees wieder sperren ließ, waren die Ausgangslage dafür, dass viele Menschen gleichzeitig die Idee hatten, selbst fluchthelfend einzugreifen.

Kollektive Selbstermächtigung zur Fluchthilfe.

Am Vormittag des 2. 9. beschlossen drei Leute, einen Konvoi von Budapest nach Wien zu organisieren, im Laufe des Tages stießen weitere drei dazu. Um 22:30 Uhr trafen sie zusammen, noch in derselben Nacht um 3 Uhr morgens ging die Facebook-Seite „Konvoi Wien-Budapest Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ online. Aufgerufen wurde, am Sonntag, den 6. 9., gemeinsam nach Budapest zu fahren, um Menschen gratis nach Wien zu bringen. Als Kollektivname wurde „Erszebeth Szabo“ gewählt (eine weithin unbekannte ungarische Antifaschistin). Eine wahnwitzige Idee, möchte man meinen – ohne Logistik, ohne Organisation und vor dem Hintergrund, dass in allen Staaten der EU auf Schlepperei hohe Haftstrafen stehen. Die mehr als 3.000 Zusagen binnen 48 Stunden haben aber sicherlich auch bei den politisch Verantwortlichen Eindruck hinterlassen, über 3.000 Leute haben sich in den sozialen Netzen öffentlich dazu bekannt, Fluchthelfe r*innen zu sein. Die Ankündigung bewirkte dreierlei: Erstens fühlten sich jene bestätigt, die private Fluchthilfe bereits machten, zweitens wurde Dublin III über diese öffentliche Selbstermächtigung zusätzlich in Frage gestellt und drittens wurde die partielle Ohnmacht der staatlichen Ordnung nicht nur gegenüber den neu Ankommenden, sondern auch gegenüber den eigenen Staatsbürger*innen spürbar. Am 4. 9. kam es in Budapest zur Verhaftung von vier Aktivist*innen wegen Schlepperei, sicher auch ein Signal gegen den Konvoi. Die Einschüchterung wirkte, die ungarische Justiz schien unberechenbar, fortschrittliche Anwält*innen fühlten sich bemüßigt, öffentlich aufzurufen, den Konvoi abzusagen. Der Konvoi wurde offiziell auf einen Hilfsgüterkonvoi reduziert.

Refugees geben den Takt vor, der erste Konvoi setzt sich in Bewegung.

Und wieder gaben die Menschen auf der Flucht den Takt vor, indem sie sich am Samstag, 5. 9. knapp nach Mittag zu Hunderten zu Fuß vom Bahnhof Keleti in Budapest Richtung Österreich auf den Weg machten. Ihre große Zahl, ihre Entschlossenheit und ihre Friedfertigkeit erinnerten an große historische Bürger*innenrechtsbewegungen. Der Konvoi, der kurz zuvor noch vor einer möglichen Absage stand, griff das Signal auf. Die Vorbereitungsgruppe kehrte zum ursprünglichen Ziel, der unmittelbaren Fluchthilfe, zurück. In 170 Autos versammelten sich die Teilnehmer* innen am 6. 9. schließlich am Parkplatz des Praterstadions, darunter einige Menschen, die noch nie politisch aktiv waren. Die Polizei zeigte sich kooperativ und geleitete den Konvoi mit österreichischen, deutschen, ungarischen und italienischen Kennzeichen bis zur Stadtgrenze. Auf den ersten Blick erstaunlich war das weltweite Medieninteresse der Aktion. Neben ungarischen und österreichischen Journalist*innen berichteten unter anderen auch CNN, BBC, Al Jazeera sowie deutsche, italienische und spanische Radiound Fernsehstationen in mehreren Liveeinstiegen über das Ereignis. Für die einzelnen Beteiligten war es ein mutiges Zeichen von Zivilcourage, oder wie es eine Teilnehmerin ausdrückte, „die letzten 15 Jahre habe ich Kleider gespendet, der Konvoi gab mir die Gelegenheit mal mehr zu tun“. Die 170 Autos, die an diesem Tag 380 Menschen aus Hegyeshalom, Vámosszabadi und Budapest sicher und unbehelligt nach Wien brachten, waren keine Gruppe, sondern ein bislang unbescholtener Querschnitt der Bevölkerung, der an diesem Tag bewusst in zwei Staaten ein strafrechtliches Delikt beging, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen. Das war die Sensation, bei der die Medien live dabei sein wollten. Das Bestechende daran war, dass die Aktion nicht im Gestus der Rebellion inszeniert war, sondern als Selbstverständlichkeit. „Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ hatte an diesen Tag ordnungspolitische Regeln suspendiert, die ungarische Polizei war auf Tauchstation, kümmerte sich nicht einmal darum, ob der Konvoi Verkehrsregeln einhielt. Es war so, als hätte er eine Tarnkappe aufgehabt. Die deutsche Tageszeitung Die Welt meinte sogar zu wissen, dass der Konvoi und dadurch ausgelöste diplomatische Verwirrungen die Grenzöffnungen erst ausgelöst hätten.[1] Solche Analysen verkennen die aktive Rolle der Geflüchteten. Sie sind Opfer von grausamen Kriegen, hier in Europa wollen sie sich aber nicht auf diese Rolle beschränken lassen, oder wie es einer ausdrückte: „Ich habe es satt, dass ihr Flüchtlinge, Refugees oder Schutzsuchende zu uns sagt. Wir sind Newcomer, wir sind die Neuen bei euch.“ Der Konvoi war nur das Spiegelbild dieser Haltung. Solidarische Menschen in 170 Autos, die den Neuen ein Stück ihrer Flucht angenehmer, menschlicher ge- stalten wollten. Die Entschlossenheit der Newcomer führte zu einer je individuell entschiedenen, aber kollektiv zur Schau gestellten Selbstermächtigung, Gesetze zu ignorieren, um sie zu verändern.

Free Rides for Newcomers. Mit zivilem Ungehorsam das System in Frage stellen.

Der Konvoi fand viele Nachfolger*innen. Aus Amsterdam, Leipzig, Berlin und Graz und zumindest vier weitere aus Wien sind organisierte Fahrten bekannt, die allesamt unbehelligt blieben. Die staatlichen Ordnungsprinzipien sind aus ihrem Taumel aber wieder erwacht. Grenzregistrierungen light und Transportlogistik von Bundesheer, Polizei und Rotem Kreuz schleusen jeden Tag 5.000 bis 10.000 Menschen nach Österreich herein (Stand Mitte Oktober), oft mit großen Umwegen und einigen Übernachtungen in Notquartieren durch Österreich an die deutsche Grenze und dort wieder hinaus. Obwohl der Verwaltungsgerichtshof schon mehrere Dublin-Abschiebungen nach Ungarn für rechtswidrig erklärt hat, finden sie im Windschatten der neuen Offenheit weiterhin statt. Private Gratis-Transporte sind unerwünscht, weil sie das System blamieren, hoheitsstaatliche Prinzipien in Frage stellen. Die Praxis des „free ride“ für Refugees ist aber etabliert, knüpft Kontakte und hat auf der Facebookseite „RefugeeConvoy – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ auch eine Kommunikationsplattform. Mobilität, offene Grenzen und sichere Fluchtrouten werden aber auch die nächsten Monate und Jahre als Themen die Diskussion prägen. Stärkere Militarisierung der Grenzkontrollen und Registrierungszentren, die fast zynisch HotSpots genannt werden, und die fremdbestimmende Verteilung der Schutzsuchenden auf alle EU-Länder, sind die hilflos anmutenden Versuche der EU, ein Regulierungsregime zu errichten. Eine Newcomer-Kreuzfahrt die Donau stromaufwärts, eine sichere Fähre übers Mittelmeer und Flugzeuge, die Asylsuchende direkt an ihr gewünschtes Ziel bringen sind Forderungen und mittel- und langfristige Aktionsziele der Konvoi-Bewegung, die vor zwei Monaten noch nicht mal gewusst hat, dass sie eine werden würde. Selbstermächtigungen und ziviler Ungehorsam werden diskursive Prozesse beschleunigen – was nicht erst seit dem „Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ bekannt sein dürfte, in ruhigeren Zeiten gerne aber wieder vergessen wird.


Kurto Wendt ist Medienbeobachter, Romanautor und politischer Aktivist.


[1] www.welt.de/politik/ausland/article146507736/ Wer-die-historische-Grenzoeffnung-wirklich-ausloeste.html