Möglichkeitsräume, Orte der Diversität oder im Paradox gefangen?

Über dritte Räume in der Kunst

1984/85 zeigte das Museum of Modern Art in New York die Ausstellung Primitivism in the 20th Century: Affinity of the Tribal and the Modern, realisiert von William Rubin und Kirk Varnadoe. Ausgestellt wurden 150 Werke westlicher Künstler*innen wie Pablo Picasso, Henri Matisse, Paul Gaugin, Max Ernst, Paul Klee, Emil Nolde, Alberto Giacometti, Jackson Pollock, Eva Hesse oder Richard Long sowie 200 Objekte anonymer Herkunft aus Afrika, Ozeanien und Nordamerika. Die der Ausstellung zugrunde liegende Konstruktion von Kunst- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, die Werke westlicher Hochkunst von anonymen Arbeiten sog. „Naturvölker“ unterschied und Objekte anderer Kulturen als Anregung und Material für die westliche Hochkunst wertete, wurde Mitte der 1980er-Jahre international beachtet; sie wäre heute so nicht mehr möglich.

Die theoretischen Grundlagen der gegenwärtigen Kritik waren zwar schon in den 1980er-Jahren gelegt; doch die an den Strukturalismus anschließenden Theorien des Poststrukturalismus wurden in der deutschsprachigen Kunstgeschichte bis Anfang der 2000er-Jahre kaum rezipiert. Anders in den USA: Hier wurden Texte von Jacques Derrida, Michel Foucault, Jacques Lacan und anderen Poststrukturalisten auch für die Reflexion der Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht; doch es waren vor allem Literaturwissen-schaftler*innen, die in Europa und in den USA produktive Lektüren und Weiterentwicklungen poststrukturalen Denkens ermöglicht und so seit den späten 1970er-Jahren die diskursiven Bedingungen für postkoloniale Theorien geschaffen haben. Sie wurden vor allem von den Literaturwissenschaftler*innen erarbeitet, die selbst „zwischen“ differenten Kulturen groß geworden waren und lebten. In einem vom Kolonialismus geprägten Land geboren, studierten sie in Europa und den USA und konnten sich in dem akademischen Milieu europäischer und US-amerikanischer Universitäten etablieren und dort postkoloniale Forschung und Lehre institutionalisieren.

Der 2003 in New York verstorbene, 1935 in Jerusalem geborene Literaturtheoretiker christlich-palästinensischer Herkunft Edward W. Said gilt mit seinem 1978 publizierten, in 26 Sprachen übersetzten Buch Orientalism [1] als Wegbereiter der Postcolonial Studies. Er lehrte Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University sowie in Harvard und Yale. Die aus Indien stammende, 1942 geborene Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak ist heute Direktorin des Center for Comparative Literature an der Columbia University in New York. Und der 1949 in Mumbai geborene Theoretiker des Postkolonialismus Homi K. Bhabha lehrt zurzeit als Professor für Englische und Amerikanische Literatur sowie Sprache an der Harvard University.

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, dass die Dichotomie „Abendland vs. Morgenland“ den „Orient“ als das Andere des „Okzidents“ modelliert, zeigte Edward W. Said im Wissen um die Diskurstheorie Michel Foucaults auf, wie eurozentristische und US-amerikanische Blicke mit immanenten kolonialen und imperialen Diskursen den sog. „Orient“ organisieren. Anders gesagt: Er untersuchte, wie sich der Westen selbst in seinen wissenschaftlichen Disziplinen als überlegener Kulturraum imaginiert und den „Orient“ als das unterlegene „Andere“ des Abendlandes konstruiert.

Auch Gayatri Chakravorty Spivak geht der Frage nach, wie westliche Intellektuelle das „Andere“ in den Blick nehmen und sich anmaßen, aus ihrer Position „für andere zu sprechen“. Da sie Subalternität als Effekt hegemonialer Diskurse begreift, die durch Abwertung und Exklusionen des „Anderen“ produziert werden, fragt sie, ob es ein von solchen Repräsentationen des „Fremden“ unabhängiges Sprechen Subalterner geben kann. Sie weist darauf hin, dass selbst in bester Absicht, beispielsweise aus wissenschaftlichem Interesse aufgezeichnete Berichte und Erzählungen der sog. „Anderen“, nicht einfach gerettete und endlich sichtbar gemachte Stimmen sind. Denn sie werden vom Westen angeeignet und gehen in entsprechende Archive ein. Hier erhalten sie, abhängig von der herrschenden symbolischen Ordnung, ihren Status und ihre Bedeutung. Aufklärung, Mission, Entwicklungshilfe und wissenschaftliche Forschung bleiben dieser „Ordnung der Dinge“ unterworfen.

Postkoloniale Theorie nimmt diese Aneignungen in den Blick. Sie ist demzufolge eng verflochten mit der Kritik an der westlichen Moderne. Vor diesem Hintergrund untersucht sie, wie der Westen das ihm scheinbar unterlegene „Fremde“ anderer Kulturen unterwirft und bis heute in eigene symbolische Ordnungen inkludiert. Davon sind Kunst, Kunstkritik und Kunstwissenschaft nicht ausgeschlossen. Sie gehören zu derselben historischen „Ordnung der Dinge“, wie Publikationen und Ausstellungen im 20. und 21. Jahrhundert zeigen.

So publizierte der deutsche Kunsthistoriker Carl Einstein 1915 nach Begegnungen mit Pablo Picasso, Georges Braque und Juan Gris 1907 in Paris seinen Essay Negerplastik und richtete seine Aufmerksamkeit auf formale Aspekte der in Afrika produzierten Plastiken. Und noch Jean-Paul Satre unterteilte in seinem Vorwort zu Frantz Fanons Buch Les damnés de la terre 1961 die Menschen in diejenigen, die „über das Wort verfügen“ und die es entleihen: die sog. „Eingeborenen“.

Erst 1989 versuchte der Kurator Jean-Hubert Martin mit seiner Ausstellung Les Magicien de la Terre im Namen des Centre George Pompidou in der Grande Halle de la Villette in Paris den kolonialistischen Implikationen der Ausstellungen und Publikationen wie Primitivism im MoMA sowie der Kolonialausstellung L’Exposition Colonial 1931 in Paris zu begegnen. Er stellte Werke von Künstler*innen aus Europa und den USA sowie Werke bislang marginalisierter Künstler*innen nichtwestlicher Herkunft aus. Auch wenn er dafür kritisiert wurde, dass er alle Objekte westlichen Ästhetik-Standards unterwarf, gilt seine Ausstellung als Wendepunkt und Beginn einer Auseinandersetzung mit den (post-)kolonialen Implikationen der westlichen Kunstgeschichte.

Mit der Ausstellung Inklusion/Exklusion. Versuch einer neuen Kartografie der Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration in Graz ging Peter Weibel 1996 einen Schritt darüber hinaus. Er zeigte und reflektierte „einen neuen Atlas künstlerischer Praktiken“ rund um den Globus und schloss damit erstmals im deutschsprachigen Raum an die seit den ausgehenden 1970er-Jahren im anglo-amerikanischen Kontext währenden postkolonialen Diskussionen an.

Der 1963 in Nigeria geborene Künstlerische Leiter der documenta 11 Okwui Enwezor war der erste „schwarze“, in Afrika geborene Kurator einer Documenta. Mit vier Plattformen in Wien, Neu-Delhi, auf St. Lucia und in Lagos hat er die Großausstellung globalisiert, zugleich de-zentriert und im Sinne der Postcolonial Studies diskursiviert. Die Ausstellung in Kassel 2002 war nur eine weitere „Plattform“, die an Diskussionen um „Demokratie als unvollendeter Prozess“ (Wien, März 2001), „Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung“ (Neu- Delhi, Mai 2001), „Créolité und Kreolisierung“ (St. Lucia, Januar 2002) und „Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte: Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos“ (Lagos, März 2002) anschloss.

Heute wird der Begriff des „Dritten Raums“ in kulturpolitischen Diskussionen häufig verwandt, um Orte multikultureller („diverser“) Begegnungen zu bezeichnen. Doch die damit verbundene These einer „kulturellen Hybridität“ [2] und somit die Position eines „dritten (diversen) Raums“ ist durchaus komplexer und für die postkoloniale Theorie nicht selbstverständlich. Denn die bisher skizzierten Haltungen haben gezeigt, dass selbst Forschung und Ausstellungen, die sich der Frage nach Inklusion stellen, im „Macht- und Wissensbereich“ des Westens verbleiben und so in dem von Spivak formulierten Paradox gefangen sind. Daher bleibt die Frage virulent: Gibt es im Wissen um diese Krux überhaupt Möglichkeiten interkultureller Dialoge, einer Multikulturalität, die differenten Kulturen Rechnung trägt und ihnen einen gemeinsamen „Raum“ gewährt? Wäre ein solcher Ort mit Bhabhas Konzept eines „Dritten Raums“ vergleichbar?

Said und Spivak wären dieser Fragestellung mit äußerster Skepsis begegnet. Homi K. Bhabha sucht demgegenüber nach Möglichkeiten: nach einem „dritten Ort“, als einem Austragungsort kultureller Differenz „zwischen den Kulturen“. Dieser Ort ist allerdings kein Ort der realen Begegnung. Bhabhas „dritter Raum“ ist ein Austragungsort sprachlicher, d.h. semantischer Überschreibungen und Verschiebungen, die sich beispielsweise durch Übersetzungen, Missverständnisse und veränderte Lesarten ergeben. Als Literaturwissenschaftler untersucht er intertextuelle Widerstandsmomente und findet sie vor allem in literarischen Texten, angelegt in deren Leerstellen und Mehrdeutigkeiten.

Geleitet von poststrukturalen Theorien Jacques Derridas und Michel Foucaults und im Wissen um die psychoanalytischen Studien Sigmund Freuds und Jacques Lacans, geht Bhabha davon aus, dass es selbst in einer „kolonialen Mimikry“ Widerstandspotential gibt: denn Übersetzungen, Übertreibungen, Ironie etc. lassen Re-Artikulationen zu „Wiederholungen mit Differenz“ werden. „Koloniale Mimikry“ kann auf diese Weise subversiv sein; denn sie verschiebt etablierte Bedeutungen, Werte und Vorstellungen. Wo semantische Zwischenräume entstehen, treffen sich scheinbar inkommensurable kulturelle Zeitlichkeiten und erzeugen so Mehrdeutigkeiten. Hier vermag zuvor Ausgegrenztes aufscheinen.

Bhabha vergleicht dieses „Aufscheinen“ mit der unheimlichen Gegenwart des wiederkehrenden Verdrängten, das Sigmund Freud mit dem Begriff des „Unheimlichen“ charakterisiert hat. Hatte Gayatri Chakravorty Spivak noch gefragt: „Can the Subaltern Speak?“ [3], so reflektiert Homi K. Bhabha mögliche „Einbrüche“ eines kulturell Verdrängten im Prozess des Schreibens. Er nennt ein Beispiel: Die geisterhafte Erscheinung eines jungen schwarzen Mädchens in Toni Morrison Erzählung Beloved (1987), die Gewalterfahrungen der zu Sklaven degradierten Schwarzen in den USA in Szene setzt. Diese Ein- und Umschreibungen geschehen nicht als geplante Ermächtigungen oder strategische Neuschreibungen von Geschichte, sie ereignen sich vielmehr unerwartet und eruptiv.

Bhabhas „Dritter Raum“ ist daher kein Ort, an dem Polarisierungen einfach ausgeglichen und harmonisiert werden; es ist kein dialektischer Raum der Synthese, der Widersprüche aufhebt, sondern ein hybrider Ort sich durchkreuzender Zeitlichkeiten, von Spannungen und Verdichtungen und einem möglichen „Dazwischen“. Doch wenn heute mit Blick auf den „Dritten Raum“ von „Diversität“ und „Multikulturalität“ gesprochen wird und dabei ein konfliktfreies Nebeneinander oder sogar ein harmonisches Ganzes in realen Begegnungen an einem Ort antizipiert wird, so bleibt diese hybride Struktur ausgeblendet.

Sie wird in Bhabhas Bezugnahme auf Walter Benjamin deutlich. Denn nur wenn diese Hybridisierungen, ganz im Sinne von Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, ermöglichen, dass Erinnerungen im Moment der Gefahr aufblitzen und „Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält“ [4], funktioniert der „Dritte Ort“ als semantische Intervention im Hier und Jetzt. Benjamin sah in dieser schockhaften Struktur eine revolutionäre Chance im Kampf für die unterdrückte Vergangenheit; um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen. [5] Bhabha spricht nicht als dialektischer Materialist; doch auch er konzipiert „Jetztzeiten“, in denen verdrängte und unterdrückte Semantiken die herrschenden Geschichten aufsprengen und unterlaufen. In dieser Struktur liegt das Potential des „Dritten Raums“. Auch wenn kritisiert wird, dass Bhabha Widerstand und Handlungsmacht der Unterdrückten nur textlich begreift, so lässt sich daraus nicht einfach ein Raum multikultureller Begegnungen antizipieren. Auch im übertragenen Sinn muss die von ihm reflektierte und Widersprüche thematisierende Dialogizität möglich sein; an diesen Herausforderungen und Potentialen müssen sich „Dritte Räume“ messen lassen.


Friederike Wappler ist wissenschaftliche Leiterin der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum.


[1] Edward W. Said: Orientalism, Pantheon Books: New York 1978; dt. Ausgabe: Orientalismus, Fischer Verlag: Frankfurt/M. 2009.

[2] Homi K. Bhabha: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, hg. von Anna Babka und Gerald Posselt, Wien 2012.

[3] Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008

[4] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Illuminationen, Suhrkamp: Frankfurt/M. 1980, S. 260. 5 ebd., S. 260.