Freundschaft!

Signatur der sozialdemokratischen Ära

Es mag ja in der persönlichen Rückschau imposanter und eindrucksvoller erscheinen, als es denn tatsächlich war, aber meine Erinnerung daran ist geprägt von Bildern des Machtvollen und Überwältigenden, von Bildern der Schönheit auch und der Erbauung. Es waren gewaltige Manifestationen der großen Zahl, Masseninszenierungen der Freien und der Gleichen, ein einziger Appell gewissermaßen an die kollektive Emotion. Man demonstrierte, für wenige Stunden dieses einen Tages, soziale Verbundenheit, politische Loyalitäten, gemeinsame Zukunftsgewissheit, Visionen und Träume einer solidarischen Gesellschaft, man demonstrierte sich selbst. Es war alles in allem ein konkreter, gleichwohl überaus flüchtiger Vorschein auf eine bessere und gerechtere Welt, die, wann auch immer, jedenfalls aber mit historischer Bestimmtheit auf uns zukommen würde. Die Rede ist von den alljährlichen Kundgebungen zum 1. Mai im Wien der späten 1970er Jahre. Aus allen Bezirken strömten sie, einer nicht enden wollenden Prozession gleich, mit ihren Fahnen, Transparenten, Losungen, Augenblicks- Inszenierungen auf den Rathausplatz, bis zu einer Viertelmillion Menschen. Und ständig und überall und immer wieder dieser eine Gruß, einer Beschwörungsformel gleich: Freundschaft. Die überlebenden und rückkehrenden KZler*innen hatten diese Reminiszenz an die Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit in das Parteileben eingebracht, genauso wie das mehr oder minder verpflichtende, alle Parteihierarchien übergreifende Du-Wort.

Aus dem Fiasko des Zusammenbruchs der globalen Finanzmärkte und der Großen Depression der frühen dreißiger Jahre, aus den ungeheuren gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen dieser Zeit und dem daraus resultierenden faschistischen Trauma waren nachhaltige Lehren gezogen worden. Die faktisch mit Kriegsende 1945 wiederbegründete Sozialdemokratie entsagte jeglichem Kultur- und Klassenkampf, suchte vielmehr den historischen gesellschaftlichen und ökonomischen Kompromiss; es ist zugleich die Zeit der größten Machtentfaltung der Arbeiterbewegung. Unter ihrem entscheidenden Mitwirken wurde ein Produktions- und Regulationssystem eingerichtet, das gleichermaßen Wachstum, soziale Sicherheit, Vollbeschäftigung und gesamtgesellschaftlichen Konsens herstellen konnte und eine umfassende soziale Integration der Arbeiterschaft garantierte. Dadurch wurden Massenmärkte geöffnet, der Zugang zu den produzierten Gütern ermöglicht, die nahezu verallgemeinerte Identifizierung mit dem Gemeinwesen hergestellt – eine nachhaltige Bindung an die soziale Marktwirtschaft. Die breite (wenn auch unvollkommene und frauendiskriminierende) Streuung der Einkommen und die Beförderung der Einkommensgerechtigkeit wurden zum symbolischen Leitmotiv der gesamten Ära. Und doch suchte man jenseits des reinen Pragmatismus nach identitätsstiftenden Ebenen und Vehikeln, war die Konzeption der klassenlosen Gesellschaft, die nunmehr eben im Wege einer Verallgemeinerung des Mittelstandes hergestellt werden sollte, zumindest in der Theorie nicht ganz vergessen. Sehnsüchte, Aspirationen, die sich in dem einen Code verdichteten: Freundschaft.

Spätestens in den Neunzigern erschien dies alles nur mehr wie ein nebuloser, ferner Traum. Ein schrankenloser, vermittels neuer Technologien global agierender Turbokapitalismus hatte seine endgültige Emanzipation von einer sozialpartnerschaftlich orientierten Arbeiterbewegung vollzogen, wie keine andere Ideologie zuvor hatte ein sozialdarwinistischer Neoliberalismus gesellschaftliche Hegemonie erlangt (und sich nebstbei new labor in all seinen national unterschiedlichen Erscheinungsformen zur Gänze einverleibt). Der Markt wird nunmehr zur eigentlichen und ausschließlichen Instanz allen menschlichen Handelns, ausnahmslos Alles und Jedes wird dem Primat des Privaten und der Eigentumsrechte unterstellt. Es geht um eine radikale Neufassung der politischen Ökonomie, um Deregulierung und „Verschlankung“ von wohlfahrtsstaatlichen Systemen und Transferleistungen. Es ist ein Projekt der gesellschaftlichen Umverteilung, von unten nach oben. Der Neoliberalismus hat seine Leittechnologie und in direkter Wechselbeziehung zur Privatisierung des Öffentlichen steht eine in ihren Dimensionen bis dato unvorstellbare Veröffentlichung des Privaten, vermittelt über die sogenannten sozialen Medien. Ganz im Gegensatz zu ihrer gängigen Bezeichnung sind sie Medien einer radikalen Individualisierung, einer Zurückgeworfenheit der Menschen auf sich selbst; sie bezeichnen das unwiderrufliche Ende eines der Spätaufklärung verpflichteten Konzepts von Freundschaft. Diese gerät vielmehr zur allzeit quantifizierbaren Kategorie der friends und followers und unterliegt einem ebenso gnadenlosen wie sinnentleertem Like-Button-Populismus. Gemeinsames, interessen- und solidargeleitetes Handeln, die Formierung eines politischen Wir ist unter diesen Voraussetzungen weder sinnvoll noch möglich, non-konformes, systemkritisches Denken und Handeln wird, im besten Fall, der Kategorie des Schrulligen und Abstrusen zugeordnet.

Der unlängst verstorbene liberale Philosoph Ralph Dahrendorf hat Ende der Neunziger denn auch das sozialdemokratische Jahrhundert, sohin die Idee solidarisch geleiteter Freundschaft, für beendet erklärt. Er konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, wie Recht er hatte.


Wolfgang Maderthaner ist Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs.