Politik der Freund*innenschaft

Ende Januar 2002: Es ist morgens und die Sonne knallt bereits brutal auf die Grand Victoria-Wüste in Süd-Australien. Eine Frau steigt aus ihrem Wagen mit Allradantrieb und beginnt entschlossen um das berühmt-berüchtigte Internierungslager für AsylbewerberInnen ohne abgeschlossenes Verfahren in Woomera herum zu gehen. In dem Lager haben verzweifelte Insassen (hauptsächlich aus Afghanistan, Iran und Irak) ihren Protest gegen die unmenschlichen Haftbedingungen nach Innen gekehrt, indem sie ihre Körper mit groben Stichen durch ihre Lippen abgedichtet haben, gegen den Anreiz zu sprechen und zu essen. Die weiße australische Frau, die gekommen ist, um mit ihnen zu fasten, trägt ein Plakat, auf dem mit selbst geschriebenen Buchstaben folgender Trost steht: „Ihr seid nicht allein!“ Sie möchte diesen Trost zum Ausdruck bringen, ihn in Sichtweite der Insassen verkörpern, von Angesicht zu Angesicht, aber eine vor Ort installierte Überwachungskamera erfasst ihr beginnendes Projekt: Ein aufgebrachter Security-Mann stoppt ihr Weiterkommen und schubst sie zurück in ihr abgestelltes Auto. Sie bricht zusammen, niedergeschlagen durch ihr Scheitern.

Dennoch ist, wie unmerklich auch immer, etwas geschehen in diesem Moment gewaltsamer Abweisung, als der Wachmann, der angeblich ihre Interessen als legitime australische Bürgerin schützen soll, sie behandelt als sei sie die illegal Eingereiste, die Hausfriedensbrecherin, die Fremde. Wie können wir eine solche missglückte Mission nennen? Eine Frau büßt das nicht unbeträchtlich Angenehme am Konsens mit ihrer eigenen Gemeinschaft und der gewählten Regierung ein, um einer flüchtigen Kommunikation mit „Fremden“ wegen, die weithin als potenzielle Gefahr für die Integrität des australischen Staates wahrgenommen werden. Wie können wir diese kleine (unbedeutende?) Geste des Sich-Selbst-Gefährdens im Namen des Friedens nennen, die der zaghaften Annäherung an die/den Anderen, wie Emmanuel Lévinas es nennen würde, verpflichtet ist und die den „Mehrwert der Sozialität über jede Einsamkeit – den Mehrwert der Sozialität und Liebe“ bezeichnet? Nennen wir es, in scheinbarer Willkür, die Politik der Freund*innenschaft.

Unser erstes Archiv, die Geschichte der Freund*innenschaft in der westlichen politischen Philosophie, verkompliziert dieses Projekt. Weit davon entfernt, geheim und nicht anerkannt zu sein, wie wir es uns vielleicht wünschen würden, taucht die Kontiguität zwischen Freund*innenschaft und Politik in diesem System endemisch auf. „Das westliche politische Denken“, macht Horst Hutter in seinem Buch Politics as Friendship (1979) deutlich, „hat seinen Ursprung in einem Gedankensystem, in dem die Idee der Freundschaft das Hauptprinzip jener Begrifflichkeiten ist, in denen politische Theorie und Praxis beschrieben, erklärt und analysiert wird.“ Es gibt noch ein weiteres Problem, auf das uns Jacques Derrida rund zwei Jahrzehnte nach Hutter aufmerksam macht. Die Konfiguration politischen Denkens, die Freundschaft dermaßen besitzer – greifend als ihre Gründungsmetapher erfasst, „tritt selten ohne eine bestimmte Rückbindung des Staates an die Familie, selten ohne das auf den Plan, was wir einen Schematismus der Abstammung nennen werden: der Stamm, die Gattung oder die Art, das Geschlecht, das Blut, die Geburt, die Natur, die Nation – autochthon oder nicht, tellurisch oder nicht.“ [1]

Ich werde die genauen Implikationen dieser Derrida’schen Sackgasse gleich erläutern, aber lassen wir zunächst dem Verdikt volle Aufmerksamkeit zuteil werden, dass die kanonischen Formen der westlichen Politik ihre Systematik innerhalb eines „Schematismus der Abstammung“ erlangen. Mit anderen Worten (mit ein wenig Hilfe von Edward Said) erhalten diese Formen – also das Politische, wie wir es kennen – ihre Inspirationen aus dem häuslichen Raum der Familie, wobei sie im öffentlichen Leben die hartnäckigen Märchen von der Selbstbezüglichkeit, der Gemeinsamkeit, der Ähnlichkeit und der Ordnung des Selbst wiederholen. Unnötig zu betonen, dass die eingangs geschilderten Handlungen der Frau in Woomera innerhalb dieses Schematismus nicht den Namen „Politik“ verdienen. Aber verdienen sie den Namen „Freund*innenschaft“? Das ist der Knackpunkt.

Auf der Suche nach Antworten, lassen Sie uns kurz mit Hutter und Derrida zu Aristoteles zurückkehren, dem Denker, auf den beide Kritiker sich (Hutter bewundernd, Derrida widerstrebend) mit dem entscheidenden Hinweis auf Politik als Freundschaft im westlichen Denken beziehen. Eine metaphorische Verbindung, die in der thematischen Einheit zwischen der Nikomachischen Ethik, die den ethischen Verpflichtungen der philia genaue Aufmerksamkeit widmet, und der Politik, die sich intensiv mit den politischen Verpflichtungen der Bürger*innenschaft beschäftigt, ausgearbeitet und erörtert wurde. Die Lücke zwischen diesen beiden Texten (zwischen, wie wir hinzufügen könnten, philia und Bürger*innenschaft, Freundschaft und Politik) wird von Aristoteles’ Konzeption der Freundschaft als homophiles Band, das prinzipiell, wenn es nicht ausschließlich Mitbürgern zusteht, überbrückt. Während die Politik die polis oder den Staat als natürliche und höchste Repräsentation menschlicher Soziabilität hochhält, bevorzugt die Nikomachische Ethik die Freundschaft als die beste Probe der Bürger*innenschaft – als immer in den Grenzen der polis stattfindende Ausarbeitung des Zusammen-Seins. […]

Diese ursprüngliche Konzeption von Freund*innenschaft, entwickelt unter den historischen Bedingungen der extremen Verwundbarkeit des kleinen griechischen Stadt-Staates, bedient sich stark, wenn nicht sehnsüchtig beim spärlichen Vokabular der Abstammung: „der Freund ist ein anderes Selbst“, „die Basis von Affektivität ist Gleichheit und Ähnlichkeit“ usw. Die Handlungen der Frau aus Woomera, so scheint es, verdienten nicht einmal den Namen Freund*innenschaft, wenn wir nicht ein anderes Modell von Freund*innenschaft finden, das ohne Bezug auf den „Horizont des Wiedererkennens“ (Derrida) auskommt. Wir brauchen darüber hinaus ein kontigentes und nomadisches Modell des Politischen, das unabhängig ist von der bedrückenden Nomenklatur von Natürlichkeit, Homogenität und Ursprung. Unsere Forderung ist in gewisser Weise selbst eine philosophische, da die Philosophie schließlich selbst einflussreiche etymologische Spuren der philia in ihrem Namen und Anliegen trägt. Danach fragen wir: Wenn Freund*innenschaft bereits das Innere des Politischen bewohnt, können wir dann nicht in einer flüchtigen Nacht des Denkens einen radikalen Ersatz an ihre Stelle schmuggeln, einen Infiltrator, der die Logik der politischen Ähnlichkeit ungeschehen macht? Der uns eine anti-kommunitaristische Gemeinschaft beschert? Und wie könnte dann eine solche Freund*innenschaft aussehen? [2]


Dieser Text ist ein Ausschnitt aus Affective Communities. Anticolonial Thought, Fin-de-Siècle Radicalism, and the Politics of Friendship. Durnham & London: Duke University Press 2006. Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.

Leela Gandhi ist postkolonialistische Theoretikerin und John Hawkes Professorin für Geisteswissenschaften und Englisch an der Brown Universität in Providence, Rhode Island, USA.

[1] Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002, S. 11.

[2] Das Woomera Immigration Reception and Processing Centre wurde im April 2003 nach vermehrten Protesten wegen Menschenrechtsverletzungen geschlossen, Anm. d. Übers.