Vor dem davor – gibt es immer noch ein davor … und davor und davor

Eine Zwischenbilanz zur Arbeit der Koalition der Freien Szene in Berlin

Die Koalition der Freien Szene gründete sich im März 2012 in einem großen Treffen von Akteur_innen der Freien Szene aber auch Vertreter_innen von zahlreichen Institutionen. Um gerade aus der Perspektive der bildenden Künstler_innen die Einzigartigkeit der geleisteten Arbeit – und die aktuellen Ergebnisse als „Erfolge“ der Koalition der Freien Szene – für die bildende Kunst und die Kulturproduktion einordnen und verstehen zu können, müssen die vorausgegangenen Ereignisse und die jüngste Entwicklung beschrieben werden. Es braucht einen Schritt davor. Und davor. Und davor.

Von 2008 bis 2010 gab es – auch motiviert durch Signale aus dem Senat (Landesregierung Berlin) – die einmalige Möglichkeit, dass Berlin wieder eine Kunsthalle bekommen sollte. Oder sogar zwei? Dem damaligen Regierenden Kultursenator schwebte ein Neubau für zeitgenössische bildende Kunst vor, ein Leuchtturm der Architektur, mit Eventcharakter und Erlebnis- Kultur. Akteur_innen der Kunstszene hingegen dachten an den damals noch voll funktionierenden Blumengroßmarkt in Berlin-Kreuzberg. Eine beispielhafte Initiative setzte ein umfassendes Kunst-Programm um, welches unter Einbeziehung der Anrainer_innen, der anliegenden Kunstinstitutionen und denjenigen, die die Interessen der bildenden Künstler_innen in der Stadt vertreten, vor allem die Freie Szene in den Vordergrund stellte. Die Kunstinvasion verwandelte die Kunsthalle an einem Wochenende und für 36 Stunden in eine Ausstellungshalle, die durch kuratorische Interventionen, Performances, Installationen und Diskussionen den Raum neu besetzte.

Danach, so dachten alle, sei der Weg frei für eine neue Kunsthalle in Berlin. Doch in einer Blitzaktion stellte der Senat über eine halbe Millionen Euro bereit, um die Frage nach der Notwendigkeit einer Kunsthalle zu bearbeiten und diesen Prozesses auszuwerten. Dieser Entwicklungsprozess wurde jedoch nie begonnen, stattdessen stellte der damals Regierende Kultursenator eine zusätzliche Summe aus Lottomitteln (1 Mio. Euro) bereit, um für sechs Wochen eine so genannte Leistungsschau der bildenden Kunst stattfinden zu lassen.

Vom offenen Brief zur Selbstorganisierung der Freien Szene

Dies war der Impuls für einen offenen Brief von Akteur_innen und Institutionen, die kritisierten, dass eine solche Leistungsschau komplett an den dringend notwendigen Produktionsverbesserungen in der bildenden Kunst vorbeiginge. Federführend hier die Initiative Haben und Brauchen. Dem Brief folgten interne und öffentliche intellektuelle Diskussionsprozesse, Selbstverständnisdebatten und intensive Redaktionsarbeit. Es entstand ein Manifest, ein zweiter offener Brief und vieles mehr.

Die bildende Kunst, die Akteur_innen im Kulturbetrieb hatten also einen eigenen Protest-Prozess begonnen, stark orchestriert und aus der Empörung heraus motiviert. Es gelang dadurch, wichtige Inhalte durch Heterogenität und das Potenzial an Schwarmintelligenz und Einzelkämpfer_innentum innerhalb der bildenden Künstler_innen in konstruktive Zusammenhänge zu führen. Die Themen waren schon als misslich und defizitär durchdrungen und analytisch artikuliert. Die Bestandsaufnahme darüber, was die bildende Kunst hat und was sie braucht, erfuhr dadurch einen großen selbstdefinitorischen Moment, der – so meine These – die Arbeit und die Forderungen für die bildende Kunst und die Kulturproduktion innerhalb der Koalition der Freien Szene erst ermöglichte.

Als Novum eine spartenübergreifende Koalition

Im März 2012 bildete sich eine spartenübergreifende Koalition der Freien Szene aller Künste, um auf die eklatante Fehlentwicklung im Berliner Kulturhaushalt aufmerksam zu machen. Die bis dato bestehende Kultur- respektive Förderpolitik, so die Erklärung des Sprecher_ innenkreises der Koalition der Freien Szene, gefährde die Substanz des viel beschworenen und international gefeierten kreativen Berlins. Die Künste in ihrer Vielfalt und in ihrem Zusammenspiel machen die Attraktivität Berlins aus und sind ein entscheidender Wirtschafts- und Tourismusfaktor. Es muss in der Kulturpolitik verstanden werden, dass Kunst kein reines Imagetool ist. Die Koalition der Freien Szene wehrt sich gegen eine Politik, die die Künste in freien Strukturen zunehmend Verwertungszwängen aussetzt bzw. der Verdrängung preisgibt und damit die Autonomie der Kunst beschädigt und die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst marginalisiert. Dieser Zusammenschluss aller Sparten ist ein Novum, das der Kulturpolitik und der daran gebundenen Verwaltung strategisch gegenübertritt.

Die Arbeitsform ist seit 2012 ein sehr konstant besetzter und engmaschig agierender und kommunizierender Sprecher_innenkreis, der aus vielen Sparten besteht. Eine Sprecher_in trägt die vom Sprecher_innenkreis insgesamt erarbeiteten Themen, Argumente und Forderungen als Hauptansprechpartner_in für Politik, Verwaltung und Medien nach außen.

Das Plenum, die Freie Szene insgesamt, wird in regelmäßigen Abständen zusammengerufen, die Ergebnisse und der aktuellste Stand der Dinge werden transparent und unverblümt vorgetragen. Geplante Vorhaben, Strategien und Verhandlungen mit Politik und Verwaltung, werden im Plenum diskutiert, ggf. justiert und dann zur Umsetzung durch den Sprecher_innenkreis „freigegeben“.

Exemplarische Erfolge, weitere Forderungen

Die Arbeitserfolge, die jetzt nach vier Jahren zäher Verhandlungen zum Doppelhaushalt 2016/2017 zu konstatieren sind, sind aus förderpolitischer Sicht u.a. ein Aufwuchs des Kulturetats um ca. 10%, ein mit der Koalition der Freien Szene erarbeitetes neues Förderund Vergabeprogramm zur spartenübergreifenden Stärkung der freien Szene in Höhe von 3,5 Millionen Euro aus der CityTax, die Einführung von 70 Arbeitsstipendien à 7.000 Euro in der bildenden Kunst sowie Stipendien für Forschung und Recherche mit künstlerischem Ansatz, aber auch für den kuratorischen Bereich. Zudem sind Ausstellungshonorare eingeführt, das Atelierprogramm wurde gesichert und weiter ausgestattet. Zu den Ausstellungshonoraren ist der Vergabe-Pilot in 2016, dass nur die bezirklichen Kultur- und Kunstämter im Vorfeld (bis zum 31.1.2016) die Anzahl der auszustellenden in Berlin lebenden Künstler_innen für das ganze Jahr hochrechnen und beantragen müssen. Eine Einzelausstellung (1–2 Personen) bedeutet ein Ausstellungshonorar von 1.000 Euro pro Künstler_in, Kleingruppenausstellungen werden mit 350 Euro pro Person vergütet und Ausstellungen ab zehn Künstler_innen mit je 150 Euro. Die Koalition der Freien Szene hat zudem erreicht, dass es eine interdisziplinäre und spartenübergreifende Jury geben wird, die zweimal jährlich die Projektanträge zur Stärkung der Freien Szene prüft. Die Koalition hat dazu, ebenso wie der Rat für die Künste, personelle Vorschläge eingebracht. Die Koalition der Freien Szene wird zudem auf Grundlage des 10-Punkte-Programms (Forderungspapier) eine Präambel erstellen, die sie der Jury als Handlungsempfehlung zur Seite stellen möchte.

Aus kulturpolitischer Sicht ist zudem als Erfolg festzuhalten, dass dieses Berliner Modell exemplarisch gelten kann. Es umfasst die erstmalige Einbeziehung von Ausstellungshonoraren, den Einzug von Forschung und Recherche sowie die Transdisziplinarität in die Terminologie des Förderkataloges der Verwaltung. Und dies – ebenfalls ein Novum – auch für die kuratorische Arbeit. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass der Begriff Freie Szene im Diskurs weitestgehend die „Off-Szene“ oder gar „Alternative Kunstszene“ abgelöst hat. Und die Spezifizierung, was die Freie Szene denn sei, im Berliner Senat (und anderswo) durch die Definition der Koalition der Freien gedeckt ist und erklärt wird.

In diversen Städten im Ruhrgebiet und z.B. in Hamburg gibt es nachfolgende Initiativen, teilweise mit der Übernahme des Logos, und im engen kollegialen Kontakt untereinander. Politisch ist dies alles für die bildende Kunst eine sehr erfreuliche Bilanz. Eine Zwischenbilanz, die durchaus ermutigt, weiter zu arbeiten, den jetzigen Stand zu sichern und weitere Verbesserungen zur Stärkung der Freien Szene zu erstreiten und zu verhandeln.



Wibke Behrens hat Cultural & Critical Theory studiert, einen MA in Design History, ist u.a. seit 2012 im Sprecher_innenkreis der Koalition der Freien Szene (www.berlinvisit.org) und in der Kulturpolitischen Gesellschaft Sprecherin für Berlin-Brandenburg. Sie arbeitet in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), Berlin.