Andere in der Ferne im Buch

Es ist wahrscheinlich die übersichtlichste Einführung in die Fragen, „wie soziale Andersheit gedacht werden kann (systematisch) und wie sie gedacht wurde (historisch)“, die Thomas Bedorf verfasst hat. Alterität wird darin als zentrales Problemfeld der Sozialphilosophie geschildert, der Autor versteht sein Buch als „programmatische Skizze“, die von anderen Disziplinen zu ergänzen sei und die epistemologische und politische Dimensionen aufzeigt, aber nicht in sie einzugreifen beansprucht. Ganz anders verfährt Étienne Balibar, der sich in seiner politischen Philosophie seit Jahrzehnten mit dem Verhältnis von Gleichheit und Freiheit beschäftigt sowie mit den Bedingungen von Universalität. Den Schauplatz des Anderen nennt er den Ort oder vielmehr den Moment, an bzw. in dem Politik die „Möglichkeit der Destruktion und Selbstdestruktion in sich trägt“. Alle Kämpfe um Gerechtigkeit und Anerkennung sind demnach stets auf ein Imaginäres bezogen, das möglicherweise auch wahnhaft Alterität konstruiert. Wer gegen Diskriminierung angehe, müsse zwangsläufig auch Zwang und Repression bekämpfen. Schließlich hält Balibar am „aufständischen Gehalt“ einer idealen Universalität fest. Bernhard Waldenfels rekonstruiert Analysen und Debatten aus phänomenologischer Perspektive. Ohne die Anderen gibt es demnach keine Sozialität. Ihre Alterität kann dabei aber nicht auf „Eigenheit und Gemeinsamkeit zurückgeführt werden“. Singuläre Ereignisse und Schwellenerfahrungen, Differenzen und Nicht-Indifferenzen, Übergänge und Zwischenräume werden dabei beschrieben, affektive und juristische Bedingungen und Effekte der Begegnung mit Anderem ausgeleuchtet. Ein merkwürdiger Kontrast entsteht schließlich, wenn das beeindruckend dichte Durchstreifen philosophischer Ansätze in einer sehr prosaischen „Vorortfahrt [!] nach Berlin-Neukölln“ mündet, bei der „angestammte Europäer einem gehörigen Maß an Fremdheit“ ausgesetzt werden. Michael Taussigs wieder aufgelegter Klassiker Mimesis und Alterität legt ebenfalls Zeugnis ab von einem Aufeinandertreffen auf der Grundlage rassialisierter Ungleichheit. Hier geht es um den ethnographischen Blick und das Kopieren, um den Gegenblick der Indigenen und das „Wunder der Mimesis“, nämlich „das Vermögen, zu kopieren, nachzuahmen, Modelle hervorzubringen, Unterschiede auszumachen, Anderes zu erschaffen und selbst anders zu werden.“ Innerhalb der bildenden Kunst dienten solche Konfrontationen mit dem Anderen häufig der Offen – legung sozialer Konstruktionen. So arbeitet etwa Denise Toussaint an den Collagen der Dadaistin Hannah Höch sehr schön heraus, dass die „Präsenz einer hierarchisch konstruierten Alterität […] im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des deutschen Kolonialprojektes“ stand. Höch thematisiere nicht nur ironisch „die Ambivalenz zwischen Begehren und Abwehr“ gegenüber den Anderen/Fremden. Sie dekonstruiere damit auch das weiße Subjekt und erscheint somit bei Toussaint als künstlerische Vorreiterin postkolonialistischer Theorie.


Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Literatur

Étienne Balibar: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Hamburger Edition: Hamburg 2006.

Thomas Bedorf: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie. Bielefeld: Transcript Verlag 2011.

Michael Taussig: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. [1993] Konstanz: Konstanz University Press 2014.

Denise Toussaint: Dem kolonialen Blick begegnen. Identität, Alterität und Postkolonialität in den Fotomontages von Hannah Höch. Bielefeld: Transcript Verlag 2015.

Bernhard Waldenfels: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung. Berlin: Suhrkamp Verlag 2015.